Lust auf ein Praktikum in Indien?
Es war seit langer Zeit mein Wunsch, in einem Zwischenjahr etwas für mich und meine Umwelt Sinnvolles zu tun. Im Sommer 2014 stiess ich auf einen Flyer von der Organisation “One World” mit der Frage: “Lust auf ein Praktikum in Indien?” Die indische Kultur war mir seit meiner “Bollywoodbandzeit” vertraut und sehr ans Herz gewachsen. Ich musste meinen Wunsch nur noch in die Tat umsetzen. Mitte Januar 2015 flog ich schliesslich für drei Monate nach Visakhapatnam, wo ich Kinder und Jugendliche unterrichten, unterstützen und lieb gewinnen würde. Es wird schwierig, diese unglaublich dichte Zeit schriftlich festzuhalten. Ich kann jeder/m empfehlen, selber eine solche Erfahrung zu machen!
Ein Father vom Provincialhouse, der Zentrale der Don Bosco-Projekte im Bundesstaat Andra Pradesh, hätte mich am Flughafen abholen sollen. Er war in der Annahme, ich käme einen Tag später an. Der Mann am Geldwechselschalter hatte kein Kleingeld und bot mir deswegen sein Handy an, damit ich meine “Freunde in Indien” kontaktieren konnte. Ich war froh, endlich ein Telefon in Händen zu halten und nutzte die Gelegenheit, den Father über meine Ankunft zu benachrichtigen. Dann klappte alles ohne Probleme. Die Hilfsbereitschaft dieses freundlichen Mannes war ein gutes Omen. Beim reichhaltigen Nachtessen im Provincialhouse, wo ich mich ans “Indian English” gewöhnen musste, verstand ich weniger als die Hälfte, genoss aber das feine Essen. Die erste Nacht war begleitet von exotischen Düften, Vogelstimmen, bellenden Hunden und Muezzingesang. Die Stimmenvielfalt sollte in Vizag, welches ich anderntags in einer stündigen Flugreise erreichte, dieselbe bleiben. Aber statt des Muezzins hörte ich hinduistischen Tempelgesang, die Luft war staubiger und wenn ich abends mit Watte über meinen Hals fuhr, war sie grau und der Inhalt meiner Nase schwarz. Am Flughafen wartete ein strahlendes Empfangskomitee bestehend aus Father Thomas, dem Leiter des dortigen Don Bosco-Projekts, Saphira Kaiser, meiner künftigen Praktikums- und Zimmerkollegin sowie deren Götti Marius Kaiser, dem Gründer von “One World”, auf mich. Abends gab es eine kleine Willkommenszeremonie im neuen Shelter, wo ich mein erstes Freundschaftsband erhielt. Dieses beschützte mich vor vielem, was ich in Indien an negativen Erfahrungen erwartete, wie zum Beispiel Schwierigkeiten in Bezug auf kulturelle Unterschiede. Ich habe mir oft vorgestellt, wie ich in solchen Situationen reagieren würde, doch es sollte nur eine dieser “Erwartungen-um-nicht-enttäuscht-zuwerden” eintreffen….und schnell wieder vergessen werden.
Es gab zwei Shelter: einen alten, einsturzgefährdeten, in dem Saphira und ich, Father Thomas und die zwei Köchinnen Maria und Veronika lebten, sowie einen neuen Shelter, in dem 40 Shelterboys, zwei Aufsichtspersonen, die anderen drei Volontäre Poly, Benedikt und Benjamin sowie Father Ratna lebten. Dieser erklärte mir eines Tages, dass der alte Shelter, in dem wir wohnten, während des Zyklons im letzten Oktober hin und her geschwankt habe und wegen seiner Bausubstanz aus Meersand kein sicherer Ort sei. Sie möchten das Gebäude so schnell wie möglich verkaufen. Mir war bei seinen Ausführungen etwas mulmig zumute…und ich verstand, warum nichts gegen das fast jeden zweiten Tag auftretende Problem der leeren Wasserleitungen unternommen wurde.
Unser Zimmer konnten Saphira und ich bei unserer Ankunft nicht beziehen, da wir zuerst mit Hilfe einiger Shelterjungs alte Farbe von den Wänden kratzen, Bad und Zimmer neu streichen, Matratzen und Moskitonetze, die Montur einer Badezimmerstange, das Zunageln eines von Fäulnisgeruch dampfenden Lochs, die Reparatur des Deckenventilators organisieren und insgesamt sechs Stunden putzen mussten. Staubsauger kennt man dort keine.
Nach der Renovation war unser Zimmer ein kleines Paradies und wurde immer schöner mit den Dingen, die wir an Strand und Märkten fanden. Sobald die Zimmertür sich schloss, waren wir in Sicherheit vor den Ratten, welche unsere Flipflops anknabberten und verschleppten sowie Insekten, welche über 500 Schulhefte, welche aus unerklärlichen Gründen im Schrank auf unserem Stockwerk lagerten, befielen. Nachdem wir diese gesäubert und verwurmte säckeweise zur fern gelegenen Mülltonne getragen hatten – Abfall wird leider in der Regel auf der Strasse entsorgt – verteilten wir sie in der Beach Blossom School. Wir gaben den Kindern auch Bleistifte, Gummis und Schreibzeugbehälter, damit sie ihre zum Teil ohnehin schon krakeligen Schreibübungen nicht mit brüchiger Kreide machen mussten. Leider entzogen wir den Insekten dadurch ihre Nahrung. Innerhalb von zwei Wochen frassen sie unbemerkt das gesamte grösstenteils handgeschriebene Unterrichtsmaterial der vorherigen Volontäre.
Von Montag bis Freitag unterrichteten Saphira und ich von 9.00-11.45 an der Beach Blossom School die vierte Klasse in Englisch und Mathematik. Mit der Zeit bekamen wir Praxis, wir konnten uns besser mit den Kindern verständigen und begannen, ihre Sprache zu lernen, denn die Englischkenntnisse der meisten Kinder waren leider sehr schwach. Wir Volontäre hatten keine Einführung in unsere Tätigkeit an der Schule. Learning by doing beziehungsweise grosse Selbstständigkeit waren gefragt. Ich finde es etwas schade, dass die Klassen nicht nach Niveau, sondern nach Alter eingeteilt wurden. Wir Volontäre unterrichteten zum Teil dieselben Inhalte an drei verschiedene Stufen und hatten keine Ahnung, was die Kinder vorher behandelt hatten. Es hiess immer, das werde nächstes Jahr besser.
Der Musikunterricht, welchen Saphira und ich an alle vier Klassen erteilten, war für mich etwas vom Schönsten. Die Kinder waren fröhlich und motiviert und wollten in jeder freien Minute auf der Gitarre, dem Tamburin und zahlreichen Kleininstrumenten wie Shakern und Trommeln, welche wir mit ihnen aus leeren Dosen, Kartonrollen und Wasserleitungsrohren bastelten, spielen. Es war eine Herausforderung, nur mit meiner Gitarre, welche ich nach und nach besser spielen lernte, zu begleiten. Ich fand aber Alternativen oder machte mit ihnen Klatschspiele und Bodypercussion. Ich entdeckte Lösungen, auf die ich ohne den Mangel an Material nicht gekommen wäre.
Nachmittags führten Saphira und ich im Shelter eine jeweils stündige Musikprobe mit sechs bis acht Jungs durch. Sie konnten richtig “abrocken” und tauften sich passend dazu “Rock Stars” und “Stylish Stars”. Die Proben brauchten ab und zu etwas disziplinarisches Durchgreifen, liefen aber ansonsten wie von alleine, da die Jungs vieles schon mitbrachten, wie zum Beispiel ein gutes rhythmisches Verständnis und tänzerisches Talent. Schwieriger war das “Vocal Training”, da die konstante Lärmkulisse bestehend aus dröhnenden Lautsprechern, hupendem Verkehr, Umzügen, Knallkörpern und Marktschreiern sie oft daran hinderte, sich selber genau zuzuhören. Die Sensibilität für solche Feinheiten wuchs aber und meine Gitarre wurde zunehmend hörbar, auch weil ich von Saphira, welche sehr schnell einige Chords lernte, auf einer zweiten Gitarre unterstützt wurde.
Gegen Abend spielten wir gemeinsam mit den Shelterboys im Hof einer öffentlichen Schule eine Stunde lang Volleyball, Fang- und Versteckspiele. Beim Kricket durften wir nur zuschauen, die Regeln waren sowieso undurchschaubar. Die Bewegung war ein guter Ausgleich, denn tagsüber war die Hitze oft so gross, dass man den Standby-Modus bevorzugte. Alles in allem war die Temperatur aber erträglich, mich störte das häufige Kleiderwaschen mehr als die Hitze, vor allem, wenn das Wasser wieder einmal nicht lief.
Am Samstag war unser freier Tag und wir konnten tun und lassen, worauf wir Lust hatten. Grosser Anziehungspunkt war die Beach, wo eine frische Meeresbrise unsere Atmungsorgane entstaubte. Wir wagten uns an immer entferntere Badestrände wie Bushikonda und Bheemili Beach. Frauen mussten allerdings in Kleidern baden, welche sich nass wie Schwimmhäute anfühlten. Weitere unvergessliche Ausflüge waren der Besuch der Borra Caves, der Araku Hills und der Dörfer rund um Narsipatnam. Besonders gefiel mir der nahegelegene Kailashgiri Hill, wo ich in einer gemütlichen Parklandschaft eine wunderbare Aussicht auf Vizag und die umliegende Hügellandschaft genoss.
Am Sonntag war jeweils Messe gemeinsam mit den Shelterboys. Als Nichtchristin hätte ich nicht teilnehmen müssen, doch das gemeinsame Singen und Trommeln mit den Jungs, von denen sowieso die meisten Hindus waren, machte Spass. Anschliessend war Spielzeit, wo wir mit ihnen malten oder Freundschaftsbänder knüpften. Nachmittags standen zwei Stunden Sport auf dem Programm und das Nachtessen nahmen wir gemeinsam mit den Shelterboys ein, damit unsere zwei Köchinnen auch einmal frei hatten.
Maria und Veronika kochten jede Mahlzeit mit frischen Zutaten und mussten neben Kochen, Einkaufen und Putzen sowie Bewirten der häufig übernachtenden Gäste auch noch die Wäsche der zwei Fathers machen. Fast jeden zweiten Tag, wenn kein Wasser aus den Leitungen tropfte, schleppten sie kübelweise Wasser ins dritte Stockwerk – für einen Lohn von 5000 Rupien monatlich, was zurzeit umgerechnet 72 Franken sind. Saphira und ich halfen beim Abwaschen und gaben ihnen am Ende einen zweiten Monatslohn – ein kleiner Schritt aus der Hilflosigkeit, die uns bei solchen Tatsachen befiel.
Die Fathers beziehungsweise Leiter des Projekts waren in der Regel nett und respektvoll, aber etwas vergesslich. Ich lernte schnell, mich selber um meine Bedürfnisse zu kümmern. Gewisse Entscheidungen wurden sehr hierarchisch getroffen, wir mussten immer an oberster Stelle bei Father Thomas anfragen, wenn wir zum Beispiel die Shelterjungs ins Kino einladen wollten.
Sonst genossen wir grosse Freiheiten, einzige Vereinbarung war, dass wir abends nach dem Nachtessen nicht mehr auf die Strasse gingen, da es zu gefährlich war. Wenn wir uns zum Nachtessen verspäteten, mussten wir anrufen, Pünktlichkeit war wichtig. Die Mahlzeiten wurden immer gemeinsam mit den Fathers eingenommen. So erfuhren wir viel Persönliches voneinander, tauschten uns aus und das gegenseitige Verständnis wuchs. Am Ende begleiteten die Fathers mich zum Flughafen und wie sie da zum Abschied winkten, waren alle Schwierigkeiten vergessen. Sie leben ihr Leben für dieses Projekt und für die Kinder und Jugendlichen, während ich nur ein kurzer Tourist war.
Am letzten Tag ass ich dreimal hintereinander Reis mit verschiedenen Spezialitäten à la maison. Ich freute mich über die Einladungen meiner indischen Freunde zu sich nachhause, welche mir dadurch einen kleinen Einblick in ihr Leben gewährten. Die Ladenbesitzer in den Geschäften, wo ich oft eingekauft hatte, schenkten mir Henna, Armreifen und Süssigkeiten. Die Kinder der Beach Blossom School studierten bezaubernde Tänze, Reden und Lieder ein und überhäuften mich mit Zeichnungen. Die Jungs im Shelter überraschten mich mit einer Rhythmuschoreographie und einem lupenreinen Lovesong….Ich werde die Zeit in Indien nie vergessen!